H P. Neuheuser: Pragmatische Quellen der kirchlichen Rechtsgeschichte

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Titel
Pragmatische Quellen der kirchlichen Rechtsgeschichte.


Herausgeber
Neuheuser, Hanns Peter
Reihe
Rechtsgeschichtliche Schriften 28
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Astrid Kaptijn

Der vorliegende Aufsatzsammelband mit Beiträgen von Historikern, Juristen und Kanonisten ist auf jene Dokumente ausgerichtet, die die alltäglichen Rechtsanwendungen zum Ausdruck bringen, d.h. die Quellengattung die im Allgemeinen als «schlichte» Urkunden und Akten betrachtet wird. Es geht hier also nicht um die üblichen kirchenrechtsgeschichtlichen Quellen wie Traktate der mittelalterlichen Kanonisten oder späterer Autoren. Einerseits werden hier die pragmatischen Quellen beschrieben, andererseits wird die Bedeutung dieser Quellen für die Forschung im Bereich der Rechtsgeschichte, der Geschichtswissenschaft und der Kanonistik sowie für die Praxis der Rechtsprechung dargelegt. Die Beiträge werden jedoch nicht, ihrer Absicht gemäss, in zwei unterschiedlichen Teilen des Buches vorgestellt. Die Abhandlungen die den grösseren Zusammenhang aufweisen umrahmen die quellenbeschreibenden Artikel.

H.-P. Neuheuser stellt in seiner Einleitung einen Zusammenhang her zwischen der kontinentaleuropäische Rechtsentwicklung im Sinn einer zunehmenden Abstraktion und dem Bedarf zur Adaptation in der Praxis, die zu einer Steigerung der praxisbezogenen Dokumente führt. Zum letzten Bereich gehören neben den statischen Texten wie liturgierechtlich relevante Liturgiebücher, Bussbücher und Predigthilfen auch die handlungsdynamischen Dokumente in Bezug auf die kirchliche Verwaltung: Urkunden, Erlasse, Dokumente zur Auslegung der normativen Texte. Die kirchlichen Archivquellen sind zumindest formal betrachtet gleichzeitig Quellen der Kanonistik und können Aufschluss darüber geben in welchem Umfang eine kanonistische Norm ihr Ziel erreicht hat bzw. aus welchen Gründen eben nicht. Die Forschungen zu Einzeldokumenten tragen auch zu einer ganzheitlichen Perspektive der lokalen (Kirchen-)Geschichte bei.

Der Beitrag von Hans-Jürgen Becker versucht den Stellenwert und die Bedeutung kirchenrechtsgeschichtlicher Quellen für die rechtswissenschaftliche Forschung darzulegen. Der Einfluss des kanonischen Rechts auf das ius commune und auf das öffentliche Recht, das Straf- und Zivilrecht wird anhand einiger kanonistischer Begriffe hervorgehoben. Dieser im Allgemeinen interessante Beitrag, obwohl er für Kirchenrechtler und Juristen wenig Neues enthält, scheint doch etwas unpassend innerhalb der Gesamtthematik dieses Sammelbandes.

Kerstin Hitzbleck stellt sich dieselbe Frage der Bedeutung dieser Quellen, hier in Bezug auf die geschichtswissenschaftliche Forschung. Sie hebt hervor, dass die Geschichte sich heute mehr mit Alltagsgeschichte beschäftigt und dass die rechtlichen Aspekte auch dazu gehören. Anhand des Beispiels zum päpstlichen Benefizialwesen legt sie dar, dass Notariatsurkunden bei der Umsetzung der päpstlichen Rechtstitel die Organisationsund Personalstrukturen in Bezug auf die Anwendung dieser Rechte enthüllen. Der Historiker benötigt die Kenntnisse des Benefizialrechts, um die Verhältnisse zwischen den handelnden Personen zu verstehen. Der konkrete Fall dagegen hilft Kanonisten und Juristen das Benefizialrecht zu kontextualisieren. Die Urkunden im genannten Beispiel legen gerade die europäische Dimension des kanonischen Rechts im Mittelalter dar. So können Dokumente des alltäglichen Lebens eine – wenn auch nur beschränkte – Vermittlung zwischen juristischer Theorie, Rechtsanwendung und Umsetzung im Alltag bilden.

Der Kirchenrechtler Stephan Haering stellt ein Editionsprojekt kirchenrechtlicher Quellen vor, nämlich die Werke der (mittelalterlichen) anglo-normannischen Schule und unterstreicht die Bedeutung unveröffentlichter Quellen für die Genese der Rechtstexte, die Entwicklung von Institutionen und Ämtern, sowie für die Geschichte der Disziplin. Die Bedeutung pragmatischer Quellen in der Anwendung des Kirchenrechts behandelt er nicht.

Hierauf folgen mehrere Beiträge von Historikern, die unterschiedliche Quellengattungen und Themen der Kempener Geschichte vorstellen, wie z.B. ein Sendweistum (Willhelm Janssen), Stiftung Altarsofficia (Joachim Deeters, der nur den lateinischen Text und deutsche Übersetzung vorstellt), Suppliken gerichtet an einen päpstlichen De legaten, bzw. Nuntius (Hans Budde), die heute noch bestehende Studienstiftung Hutteriana in Köln (Richard Hardegen), Bruderschaften (Klaus Militzer), Rechtsrituale bei der Übertragung des Küsteramtes (Sabine Kötting), Reliquienauthentiken (Hanns Peter Neuheuser) und die liturgischen Libri Ordinarii (Jürgen Bärsch). Nur der letztgenannte Autor beschäftigt sich ausdrücklich mit der Frage der rechtsrelevanten Aspekte dieser Quellen.

Ferner erwähnt Thomas Schüller beispielsweise aktuelle kirchengeschichtliche Debatten in denen kirchliche Archive ein grosses Gewicht haben und stellt dann die heute geltenden kirchenrechtlichen Normen betreffend kirchliche Archive auf Universal-, Diözesanund Pfarreiebene vor.

Der Sammelband enthält schliesslich einen Beitrag von Manfred Baldus, der den Stellenwert und die Bedeutung kirchenrechtsgeschichtlicher Quellen für die staatskirchenrechtliche Rechtsprechung an den deutschen Gerichtshöfen sowie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor allem im Überprüfen der Tragweite historisch begründeter Rechtsansprüche sieht.

Insgesamt bietet dieser Sammelband interessante Überlegungen und Beispiele zum Thema, obwohl nicht alle Beiträge streng genommen in den vorgegebenen Rahmen passen. Die Vielfalt der Quellengattungen und ihre eventuelle Benützung von Historikern, Juristen und Kanonisten werden überzeugend zum Ausdruck gebracht. Die Erstgenannten brauchen für ihre Forschungen manchmal rechtliche Kenntnisse, die beiden letztgenannten Gruppen können die Quellen für die Rechtsauslegung und Anwendung nutzen. Forschungen zum Thema Rezeption des Rechts sollen deswegen auch auf diese Quellengattungen achten.

Zitierweise:
Astrid Kaptijn: Rezension zu: Pragmatische Quellen der kirchlichen Rechtsgeschichte, hg. von Hanns Peter Neuheuser, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 772-773.

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